Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 3

Kletterlochotter. Lanzenſchlange. 477

Wohnung hat und das Land bebaut, kann niemand ohne Sorgen ſi< im Schatten eines Baumes kühlen, niemand ohne Begleitung von Sklaven die Gefilde dur<wandern, niemand im Gebüſche luſtwandeln, niemand zum Vergnügen auf die Jagd gehen. Des Nachts hat man gräßlihe Träume von Schlangen, weil man bei Tage von entſetzlichen Schlangengeſchichten hört.“

Die Lanzenſchlange iſt häufig auf den beiden Jnſeln und allgemein verbreitet: denn ſie bewohnt, laut Moreau de Jonnès, das bebaute Feld, die Moräſte die Wälder, die Flußuſfer, kurz, die ganze Fnſel vom Meeresſpiegel an bis zu den wolkenumlagerten Bergen; ſie ſchwimmt in den Gewäſſern, ſie ſchaukelt ſich im Gezweige; ſie naht den Städten und dringt auf dem Lande niht ſelten in das Jnnere der Häuſer, wenn dieſe mit Gebüſch und hohem Grafe umgeben ſind. Nah Rufz gelten als ihre bevorzugten Wohnſitze die Berge des heiligen Petrus. Dieſe ſteigen bis zu 1500 m empor und zerklüften ſih in Abgründe von vielen hundert Meter Tiefe, ſind diht bewachſen, die Büſche und Bäume hundertfach von Schlingpflanzen durchzogen und wie dur< Seile miteinander verbunden ; der uxrſprüngliche Erdboden liegt tief unter lo>erem Moder verborgen, der \ih hier ſeit der Urzeit aus verweſenden Pflanzenſtämmen gebildet hat und mit halb verweſten und no< friſ<h und freudig lebenden, in den prahtvollſten Formen und Farben prangenden Pflanzen ſo dicht bede>t iſt, daß unter ihnen überall ein düſterer Schatten liegt, in welhem man mehr den Moderduft des Todes als den friſchen Hauch des Lebens atmet. Todesſtille herrſcht in dem Walde und wird nur ſelten dur die einfahen Töne eines Vogels, den man den Bergpfeifer nennt, unterbrochen; andere Vögel ſind ſelten. Menſchen haben nie in dieſe düſtere Wildnis eindringen können; aber ſie wird von zahlloſen Lanzenſchlangen bewohnt, denen fein lebendes Weſen die Herrſchaft ſtreitig macht.

In dem bebauten Lande bilden die dichten Pflanzungen des Zu>kerrohres den belichteſten Aufenthaltsort der fürhterlihen Shlange; ſie iſt aber auh häufig in Gebüſchen aller Art, die ihr Verſte>pläße gewähren. Eine Felſenhöhle ein hohler Baum, ein von Ratten oder Krabben gegrabenes Loh werden zu ihrer Wohnung; allein ſie kommt auh oft in die Ställe und Häuſer der Landbewohner: denn bei Nacht wandert ſie weit umher, oft auh auf den Wegen, die am Tage von Menſchen wimmeln.

Während der Ruhe, in den Tagesſtunden alſo, liegt ſie im Teller zuſammengeringelt, den Kopf in der Mitte, ſchnellt ſich aber, wenn ſie geſtört wird, blißſhnell gegen den Feind vor, etwa halb ſo weit wie ſie lang iſt, worauf ſie ſih augenbli>li<h wieder in einen Kreis zuſammenzieht. Geht man, wenn ſie ſo auf dem Boden ruht, in einiger Entfernung um ſie herum, ſo dreht ſie ſih, ohne daß man re<t ſieht wie, immer nah, ſo daß ſie einem ſtets die Stirn zeigt. Beim Gehen trägt ſie den Kopf hoh und erhält dadurch ein gierliches und ſtolzes Anſehen. Sie bewegt ſih mit ſolcher Leichtigkeit am Boden fort, als ob ſie dahin ſ{<webe; man hört nicht das geringſte Geräuſch, ſieht auch auf der Erde nicht den geringſten Eindru>. Daß ſie mit leichter Mühe ſ{<wimmt, iſ allgemein bekannt auf der Fnſel. „Jh ſelbſt“, ſagt Rufz, dem ih das Vor- und Nachſtehende im Wortlaute der von Lenz gegebenen Überſezung entnehme, „habe einmal eine 1,5 m lange Lanzenſchlange im Angeſicht der Stadt St. Pierre auf einen Flintenſhuß Entfernung vom Ufer aus einem Boote ins Meer geworfen. Sie {wamm raſ< und mit unbeſchreiblicher Anmut dem Ufer zu; ſo oft wir ſie aber einholten, hielt ſie augenbli>lih an, ringelte ſi< inmitten der Flut ebenſo leiht zuſammen, als ob ſie auf ebenem, feſtem Boden gelegen hätte, und hob drohend den Kopf gegen uns. Wunderbar iſt, daß ſie dieſe Fertigkeit niht benußt um nah bena<barten, zum Teile ſehr nahe 'iegenden Fnſeln auszuwandern.“

Die Paarungszeit fällt in den Januar, die Zeit des Eierlegens in den Juli. Die Jungen kriechen aus den Eihüllen in dem Augenbli>e, in welchem lettere gelegt werden.