Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 6

Seelenleben. G77

Wir werden hierzu veranlaßt, weil ſeinerzeit der auh im Gebiete der JFnfuſorienkunde ſehr verdiente Phyſiolog Engelmann den Jnfuſorien ein hohes ſeeliſches Vermögen zu retten verſucht hat. Er beobachtete die Ablöſung von Vorticellinenknoſpen, und wie dieſelben die auf dem Väumchen zurü>gebliebenen Fndividuen aufſuchten oder auffanden, um ſih mit ihnen zu konjugieren. „Anfangs“, ſagt er, „ſchwärmten die Knoſpen, der Form nah gewöhnlichen {wärmenden Vorticellen gleih, mit ziemlih konſtanter Geſchwindigkeit (etwa 0,6—1 mm in der Sekunde), und immer um ihre Längsachſe rotierend, meiſt in ziemlih gerader Richtung dur< die Tropfen. Dies dauerte 5—10 Minuten oder no< länger, ohne daß etwas Beſonderes geſchehen wäre. Dann ändert ſich plöglih die Szene. Zufällig in die Nähe einer feſtſißenden Vorticelle geraten, änderte die Knoſpe, zuweilen wie mit einem Ru>e, ihre Richtung und nahte nun, tanzend wie ein S@metterling, der um eine Blume ſpielt, der Vorticelle, glitt wie taſtend und dabei immer um die eigne Längsachſe rotierend, auf ihr hin und her. Nachdem das Spiel minutenlang gedauert hatte, au< wohl nacheinander bei verſchiedenen feſtſißenden Fndividuen wiederholt worden war, ſebte ſih die Knoſpe endlih feſt, und zwar meiſt am aboralen (unteren) Ende, nahe dem Stiele. Nach wenigen Minuten war die Verſhmelzung {hon merkbar im Gange.

„Ein in phyſiologiſcher und ſpeziell pſy<ho-phyſiologiſcher Beziehung no< merkwürdigeres Schauſpiel beobachtete ih ein anderes Mal. Eine frei ſhwärmende Knoſpe kreuzte die Bahn einer mit großer Geſchwindigkeit dur< die Tropfen jagenden großen Vorticelle, die auf die gewöhnlihe Weiſe ihren Stiel verlaſſen hatte. Fm Augenbli>e der Begegnung (Berührung fand inzwiſchen durhaus nicht ſtatt) änderte die Knoſpe plößlich ihre Nichtung und folgte der Vorticelle mit ſehr großer Geſchwindigkeit. Es entwi>elte ſich eine förmliche Jagd, die etwa 5 Sekunden dauerte. Die Knoſpe blieb während dieſer Zeit nur etwa */15 mm hinter der Vorticelle, holte ſie jedoh nicht ein, ſondern verlor ſie, als dieſelbe eine plößlihe Seitenſhwenkung machte. Hierauf ſezte die Knoſpe mit der anfänglichen, geringeren Geſchwindigkeit ihren eignen Weg fort. Dieſe Vorgänge ſind darum merkwürdig, weil ſie eine feine und {nelle Perzeption (Wahrnehmung), raſche und ſichere Willensentſcheidung und freie abſtufbare motoriſhe Fnnervation * (git venia verbo) verraten.“

Dex Utrechter Phyſiolog iſt alſo geneigt, in den Vorticellen ein hoh entwideltes Seelenvermögen zu finden, indem er ihnen niht nur Empfindung, ſondern au<h Wahr: nehmung, bewußten Willen und raſche Ausführung des auf einen beſtimmten Gegenſtand gerihteten Willens zuſchreibt. Es würde leicht ſein, auh bei anderen Fnfuſorien ähnliches Thun und Handeln zu beobahten. Was unſere Vorticelle betrifft, ſo liegt, ſcheint mix, für die von Engelmann geſchilderte Jagd eine weit einfachere Erklärung vor: das vorausſtürmende Tier erregt einen Strudel, in deſſen Bahn das hinein geratene zweite ganz unwillkürlih gezogen wird. Schwieriger iſt der andere Fall, der aber niht für ſih betrachtet werden darf, ſondern ganz allgemein die Frage über Empfindung und Wahrnehmungsvermögen nervenloſer Tiere in ſi<h ſ{<ließt.

Mir haben ſo viele Beiſpiele von Geiſtesvermögen höherer Tiere in dieſem Werke kennen gelernt, daß wir auch über die entſprehenden Erſcheinungen in der niederen Tierwelt eine Verſtändigung anbahnen müſſen. Wir ſind ſhon mit den Polypen in eine Negion gelangt, wo vergeblih na<h einem Nervenſyſtem geſuht worden iſt, und noch einfacher ſind, wie wir ſhon geſehen haben und weiterhin erfahren werden, die Urweſen

7 Nämlich jene Beeinfluſſung der BewegungSsorgane, welche bei den höheren Tieren durch die Nerven auf vie Muskeln geſchieht.