Der Künstler zwischen Westen und Osten

92 Schillers Europädertum

Hier erfassen wır das deutscheste* Problem. „Es ist nun einmal die Bestimmung des Deutschen,“ sagt Goethe, „sich zum Repräsentanten der sämtlichen Weltbürger zu erheben.“ Die innere Entwicklung Schillers, die durch Goethe, der dieses Weltbürgertum von Natur besaß, aufgerufen wurde, bietet ein wundersam symptomatisches Beispiel deutschen Werdens. Da die Überbrückung von Vernunft und Sinnlichkeit in der „Ichheit“ von einem Deutschen zum ersten Male „gesetzt“ worden ist, hat man das Recht, Deutschland nıcht nur geographisch, sondern auch geistig die Mitte Europas zu nennen.

Man darf es, wenn der Deutsche Führern wie Goethe und Schiller folgt. Der sich seiner Bestimmung bewußte Deutsche ist somit etwas, das erst werden muß und gar nicht entstehen kann, solange nicht der Wille dazu aufgebracht wird. Man kann zwar sagen, es gibt Deutsche, insofern sie Kinder oder Frauen sind, die noch im Volksinstinkt als solchem eingebettet schlafen. Man begegnet träumenden Dichtern, die Wald sind, träumenden Malern, die Scholle sind. Deutsch ıst man, solange man Natur ist. Aber sobald der Deutsche Kultur werden will, läuft er Gefahr, Ausländer zu werden.

Dem vermag er zu entrinnen, wenn er eine Willensschulung, wie Schiller sie vorgelebt hat, durchmacht. Wer dieses einsieht, versteht jene Abirrungen nach der Form oder dem Stoff hin, die Deutsche zu Engländern und Franzosen und neuerdings auch zu Russen oder zu Chinesen machen. Der Deutsche erfüllt

* Deutsch ist in diesen Aufsätzen nie nationalistisch gemeint.