Der Künstler zwischen Westen und Osten

Schillers Europädertum 97

und hundertfacher Eigenart eines Volkstums ist eine Verwandtschaft, die auf Wahl und nicht auf Geburt beruht. Schiller ist geistiger Bürger der Schweiz geworden und hat durch sein Einbürgerungsgeschenk, den Tell, dem Schweizer die Möglichkeit gegeben, ein „guter Europäer‘ zu werden.

Schiller selbst schreibt an seinen Freund Körner, daß hier „ein ganzes lokalbedingtes Volk, ein ganzes und entferntes Zeitalter und, was die Hauptsache ist, ein ganz Örtliches, ja beinahe individuelles und einziges Phänomen mit dem Charakter der höchsten Notwendigkeit und Wahrheit soll dargestellt werden“.

Jäger, Hirt und Fischer, die Urtypen des Volkes, treten auf. Jüngling, Mann und Greis gründen den Bund der Eidgenossenschaft. Die Geburt der Staatsgemeinschaft, die Nation kat’ exochen ist dargestellt. Und in das Befreiungswerk der politisch werdenden Gemeinde, in die sich konstituierende helvetische Rechtsame, ist das Geschick des Helden verflochten. Tell handelt unabhängig von seinem Volke. Er zieht sich sogar von ihm zurück. Er schießt den Apfel vom Kopf seines Kindes, wird gefangen, im Schiff über den stürmenden See gefahren, befreit sich selbst und tötet den Tyrannen, alles auf eigene Faust, in seiner Rechten liegt alles. Diese so stark betonte Unabhängigkeit will sagen, daß der einzelne auch in der freien Gemeinde auf sich selbst beruhen muß.

Der Tell ist ein Ich-Drama in einer sich selbst gestaltenden Volksseele. Dieses Schauspiel vermöchte dem Schweizer auch heute noch die Richtung zu geben.

7 St.E.