Der Künstler zwischen Westen und Osten

DEUTSCHES UND SCHWEIZERISCHES GEISTESLEBEN

Es ist eine Eigentümlichkeit des Schweizers, daß er, sobald er Hochdeutsch spricht, etwas Predigerhaftes bekommt. Er läuft Gefahr, wenn er aus seinem Dialekte, der ihn eng mit der Wirklichkeit verbindet, hinauskommt, lehrhaft und abstrakt zu werden. Ist er zudem religiös in konfessionellem Sinne, so kann er kaum vermeiden, moralische Maximen zu geben. Zum objektiven Erkennen gelangt er erst nach langer Entwicklung. Dieses fiel Goethe auf, als er Lavater kennen lernte. Er fühlte sich angezogen von der Treuherzigkeit seiner Sprache und abgestoßen durch den Zwang seiner Moral, die immer darauf ausging, zu korrigieren, zu beeinflussen, zu beherrschen. Er liebte Lavater, weil etwas Urwüchsiges in ihm lebte, und mußte ihn doch meiden, weil er sich unfrei fühlte in seiner Nähe. Lavater übte religiöse Macht und war in solcher Übung trotz seiner Naivität nicht ganz selbstlos. Seine „Aussichten in die Ewigkeit“ hatten etwas, das bestimmen wollte. Sein Urteil griff ins Privatleben ein. In den physiologischen Fragmenten sollte das Aussehen einer Nase, der Glanz der Augen, die Form des Schädels berechtigen, jemand