Der Künstler zwischen Westen und Osten

\ Deutsches und schweizerisches Geistesleben I921I

mehr oder weniger bedenkliche Seeleneigenschaften zuzuschreiben, was inquisitorisch wirkte, trotz aller Klugheit, Zartheit und Friedsamkeit Lavaters. Diese Diskussionen auf der Rheinreise, an Wirtstafeln, in Familienlauben, in der Postkutsche konnten, bei allem Schwung, sehr peinlich werden, da sie nicht vom reinen Denken, sondern von Sympathien und Antipathien gelenkt wurden. Goethe fühlte, so ungeklärt ihm sein eigenes Innere schien, daß eine Denkart, wie die Lavaters, nicht genügte, um die äußere Erscheinung des Menschen als Abdruck der Seele zu erklären. Mit Moral waren solche Rätsel nicht zu ergründen. Da mußte tiefer gegraben werden. Er hat später in seiner Osteologie den Weg dazu gewiesen.

Lavater war einerseits zu wenig Künstler und andererseits zu wenig Wissenschaftler, um diese Probleme zu lösen und darzustellen. Er war Missionar. Er konnte und wollte die Welt nicht sehen, wie sie wirklich ist, sondern wie sie, nach seiner Ansicht, werden mußte. Er drang auf Besserung. Aber seine Einfalt und sein Glaube betrogen ihn. Er lebte in einem Nebel, worin er das Licht der Wahrheit überhaupt nicht mehr sehen konnte. Goethe spürte, daß er in diesem Dunste heuchlerisch und falsch werden müßte. Er befreite sich und kam später zu dem harten Urteile: ‚Ich lasse ihn, wie er ist, die Welt ist groß genug, daß man sich darin herumlügt.‘

Lavater ist das Beispiel eines Predigers, wie es deren auch heute noch viele gibt, die nicht den Willen haben, von der Moral, die zwingen will, vorzuschreiten zum