Der Künstler zwischen Westen und Osten
Moderne Lyrik 219
GEBET Ich suche allerlanden eine Stadt, die einen Engel vor der Pforte hat. Ich trage seinen großen Flügel gebrochen schwer am Schulterblatt und in der Stirne seinen Stern als Siegel.
Und wandle immer in die Nacht... Ich habe Liebe in die Welt gebracht, daß blau zu blühen jedes Herz vermag, und hab” ein Leben müde mich gewacht, in Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.
© Gott, schließ um mich deinen Mantel fest. Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt, du mich nicht wieder aus der Allmacht läßt und sich ein neuer Erdball um mich schließt.
Else Lasker-Schüler dichtet aus dem Blut heraus, aber das Blut ist nicht mehr der heilende Quell, wie bei den Propheten.
Sie ist ein im Chaos flatternder Zugvogel, der sich weder im Osten noch im Westen zurechtfinden kann.
Am liebsten möchte sie in den Schoß Abrahams zurück. Aber dazu leidet sie zu schwer an der Gott entfremdeten Gegenwart. Ihr ist, wie der jüngsten Dichtergeneration überhaupt, im Gegensatz zur älteren, wo jeder sein Ich betonte, ein starkes Gemeinschaftsbedürfniseigen. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl, nicht mit dem Bauer und Handwerker, sondern mit dem Arbeiter der Fabriken, mit dem Proletarier, mit dem entwurzelten Menschen, der den Zusammenhang mit der Scholle, dem Vaterland, der Gottheit verloren hat.