Der Künstler zwischen Westen und Osten
Brief eines jungen Menschen 251
schienen mir maskenhafter, während ich früher durch sie hindurch in die Seele zu schauen gepflegt hatte. Aber ich sah es, während der Prüfungen, fast als meine Pflicht an, vom Inneren der Menschen, mit denen ich zusammenkam, zu abstrahieren.
Nach bestandenem Physikum trat ich vom Prüfungszimmer auf die Gasse, frei, aber auch leer, gänzlich ausgehöhlt, mit einer eigentümlichen, vorher nie empfundenen heiteren Gleichgültigkeit. Ich schlenderte dahin; die Menschen kamen mir wie Schatten vor. Da sah ich ein junges Mädchen in blauem Mantel, das eine Mappe unter dem Arm trug und eilig dahintrippelte. Diese Eile, dieses Nichtaufschauen, das wie ein innerliches In-die-Ferne-Schauen war, interessierte mich. Ich folgte, bog um die Ecke, ging durch ein Portal, eine Treppe hinauf und stand vor dem Auditorium Maximum der philosophischen Fakultät. Das erstemal, daß ich hier gewesen. Ohne mich zu besinnen, trat ich ein, nachdem ich meine rote Mütze neben den blauen Mantel gehängt hatte. Ich muß nun sagen, daß ich das Mädchen im Augenblicke, wo der Name Platos an mein Ohr tönte, vergaß. Wie gebannt schaute und lauschte ich nach vorne. Der Redner, ein Mann mit blondem Vollbart und rötlich gebrannter Stirn, sprach über John Stuart Mill und Plato, oder, wie ich nachher auf dem Programm las, über Freiheit und Autorität. Ich ging mit atemloser Begeisterung mit, solange er die Weisheit des Griechen gegenüber dem Intellektualismus des Engländers pries, erkaltete aber plötzlich, als er forderte, man müsse wiederum Autoritäten anerkennen und die