Der Künstler zwischen Westen und Osten
252 Brief eines jungen Menschen
Freiheit des Eigendenkens hintanstellen. Ich lehnte ein Dogma selbst der verehrtesten Persönlichkeit gegenüber ab.
Als nun der Vortragende gar eine abfällige Bemerkung über Nietzsche machte, wollte ich ostentativ aufstehen und den Saal verlassen. Plötzlich aber fiel mır ein, daß ich des jungen Mädchens wegen hergekommen war, und ich begann im Auditorium nach ihr zu suchen. Dann fing ich in Gedanken ein Gespräch mit ihr an, worin ich den Professor widerlegte. Ich stellte mir dabei vor, ich schritte an ihrer Seite. Ich beschwor sie, dem Moralisten nicht zu glauben. ‚Nietzsche ist ein Märtyrer,“ sagte ich zu ihr, „er hat die Zerrissenheit des Zeitalters, das heißt die Schuld der letzten Jahrhunderte auf sich genommen und ist daran zugrunde gegangen. Und meine Verteidigungsrede gefiel mir so sehr, daß ich nach dem Kolleg am Platze, wo ich saß, sitzenblieb, ohne das Mädchen anzureden, sie niederschrieb und dem Ethiker übersandte.
Ich las hierauf zu Hause die Schriften des Mannes, der bei den amerikanischen Pragmatisten Psychologie studiert hatte und durch katholische Mystiker vom Wert der Askese überzeugt worden war, der über Erziehung, Soziologie und Gefängniswesen viel Beachtenswertes geschrieben hatte und, was mir besonders Achtung abnötigte, wegen einer übrigens unbeabsichtigten Majestätsbeleidigung sogar in der Festung gesessen war, der aber im Grunde keine erkenntnistheoretische noch naturwissenschaftliche Schulung durchgemacht hatte. Ich schätzte ihn sehr, aber ich konnte