Der Künstler zwischen Westen und Osten
Brief eines jungen Menschen 259
ihn nicht als Führer anerkennen, weil er nicht begründete, was er lehrte, und so letzten Endes doch mehr ein großer Prediger denn ein exakter Denker war.
Die Lektüre seiner Bücher, mit ihrer Forderung der Menschenliebe, hatte zur Folge, daß ich meine Studien in die Großstadt verlegte und die folgenden Jahre mitten unter dem Proletariate verbrachte. In einem Zimmer, das auf einen Hof des düstersten Berlins ging, habe ich die Dekadenz der Zivilisation, das Verbrechen, die Hölle, den Tod studiert. Keine Art und Abart irgendwelcher verlorenen Existenz entging meinem Studium.
Aber auch keine Anstrengung, die gemacht wurde, um die Kultur zu retten, blieb von mir ungeprüft. Ich hörte die berühmtesten Universitätslehrer, ich studierte die Dogmen der katholischen Kirche, ich hatte Freunde unter der Heilsarmee. Aber ich fand nichts, das den Untergang hätte aufhalten können, kein Wehr vor dem, was sich tagsüber, wenn ich durch die Straßen ging, an Eindrücken in mir sammelte. Nachts, wenn ich still für mich in meinem kahlen Zimmer saß, brauste die verdichtete Dekadenz dessen, was ich in Läden, in Cafes, in Vorträgen, in Zeitungen und Zeitschriften, in Gesprächen mit und wider Willen aufgenommen hatte, in meine Seele hinein, und nicht nur als Erinnerung, nein, wesenhaft erfüllt mit Verwesungsluft. Wie ein ungeheurer Weheschrei war dieses Erlebnis. Wie eine Stimme, die im Halse steckenblieb, weil das, was sie verkündigen wollte, zu fürchterlich war. Der Sinn der Verkündigung aber war mir gewisser als alles. Er lautete: Die Welt geht zugrunde.