Der Künstler zwischen Westen und Osten

254 Brief eines jungen Menschen

Ich las in jener Zeit Kanis „Kritik der reinen Vernunft“ und ging von der intellektuellen Kraft dieses Werkes seelisch gestrafft umher, indem ich mir sagte (und mir dabei sozusagen immerwährend einen Ruck gab): „Es ist erhaben zu glauben, wenn man nicht weiß. Oder: „Gerade weil alles sinnlos scheint, will ich gut bleiben.“ Ich lebtenach dem kategorischen Imperativ, den ich mir jedoch selbst verordnete. Ich empfand, daß jeder Befehl, der von außen kam, mich in meiner Würde beeinträchtigte. So geschah es, daß ich immer mehr nur noch auf mich selbst achtete und im Grunde meiner Seele den Gedanken hegte: Mag die Welt untergehen, ich will alles tun, um meine Ichheit für die Ewigkeit zu erhalten.

Damals wurde ın den deutschen Großstädten Laotse Mode, der rät: Hör’ auf! statt: Fang an! Ich war nicht still, nicht ruhig, nicht schicksalsergeben, nicht Chinese genug, um den Lebenskampf aufzugeben. Aber ich wäre ohne Zweifel in diesem Schwanken zwischen Vernichtung und Selbstvernichtung zermürbt worden, wenn mir nicht ein Buch in die Hände gekommen wäre, das ich noch heute segnen muß. Es war für mich die größte Wohltat. Ich meine Rudolf Steiners „Philosophie der Freiheit“. Ich las und schulte mich im Lesen. Hier war ein Denken zu lernen, das mich nach innen und nach außen sicherte, das mir Gewissen und Wissenschaft ermöglichte. Ich erinnere mich noch, wie ich an die Stelle kam: ‚Freiheit, du freundlicher, menschlicher Name, der du alles sittlich Beliebte, was mein Menschentum am meisten würdigt, in dir umfassest,