Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

anderen bedrängt und weil jeder zugrunde gehen muß, dem es nicht gelingt, seinen Platz an der Sonne zu erobern, dadurch, daß er die hemmenden Nachbarn überragt und überwächst.

Betrachten wir die tröstlichen Gesichte der Erde, die träumenden Blumen, so bemerken wir nicht, daß die hellen und farblosen in der Regel am süßesten duften, daß die gelben, roten und blauen Blüten wohlriechender sind, als die braunen und tiefer dunkelnden. Auch ist der Nektargehalt reicher bei den’ unscheinbar glanzlosen Blumen, so wie die weißen und blonden Menschen des Nordens wohl aus ihren Seelen tiefere Schätze entschürten, als der Sonnenländer glücklichere Kinder.

Ein altes Märchen erzählt vom kleinen Mädchen mit dem Buckel. Es leidet, weil die gesunden Kinder es höhnen. Aber als das Kind stirbt und in den Himmel kommt, was meint Ihr, war wohl in dem häßlichen schweren Buckel? Ein Paar wunderschöner heller Engelsilügel.

In den tropischen Zonen sind die Vögel bunter und farbiger als in unsern kargen nordischen Ländern; aber dafür singen sie minder schön.

Wie in unsern Nutzfeldern Bohnenblüte und Wicke erst am späten Abende sich erschließen und zu duiten beginnen, wie die Nachtigallen, Liebesruferinnen der finstern Nächte, erst zu schlagen aniangen, wenn die Sonne untergegangen ist, so scheint uns mühseligen nordischen Menschen für all das, was die kargende Natur versagte, beschieden zu sein ein schöneres Abendrot und eine holdere Musik.

Es ist merkwürdig, daß wohl alles Höherwachstum der Gestalten nur erfolgen kann auf Kosten der Verbreitung und Verbreiterung ihrer gegebenen Arten. Jede Pilanze, jedes Tier, ieder Mensch wird weniger fruchtbar und kann sieh weniger stark vermehren im selben Maße, als das Einzelne eigenlebendiger und gestuiter sich fortentwickelt und höherbaut. Die Japaner besitzen dafür ein merkwürdiges Volkswort: „haisho tana nashi“, „der General hat keinen Samen“. — Nur die gemeine wilde Heckenrose sorgt dafür, daß die Rosengärten der Erde nicht aussterben, während die edlen Rosenarten, die wir erzüchten, nur für gewisse Zeit lebendig bleiben und sich nicht fortpilanzen können durch Samen, sondern nur durch unnatürliche Pfropfung. Wir können durch Kunst eine gewöhnliche Orange umwandeln in eine edle Blutapfelsine, aber indem wir, dank diesem Werke der Erziehung und Bildung, den süßen Saft ihres Blutes vermehren, mindern wir auch zu-

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