Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

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unsres Lebens und Sterbens. Da zeigt es sich denn, daß wir in einer Sachwelt leben, für welche unsre Seele nicht im mindesten reift ist. Denn alle Formen unsrer Bedürmisbefriedigung; die Art, wie wir bauen, wirtschaften, siedeln, arbeiten oder müssig gehn; die Anlage der Städte, die Verteilung von Stadt und Land ist von den tatsächlichen Möglichkeiten der Kultur längst überholt. Wie es Unsinn wäre, wollte ein Mensch sein Leben daransetzen, um ein Stück Land urbar zu machen, woiern er doch in der Lage wäre, mit Fülie einer Maschine «die selbe Arbeit mühelos in ein“paar Stunden zu leisten, so ist es angesichts der tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten ein Unsinn, daß die Lebensweise der Völker aus diesen Möglichkeiten noch nicht den mindesten Gewinn zu ziehen vermag. Not und Tod sind Gesetze des Lebens! Daß aber neben einander stehend, der eine untergeht, indem er rücksichts- und sinnlos sich vollschlemmt; der andere, indem er ausgemergelt vor Hunger, zusammenbricht; daß der eine im Dunkel friert, gerade darum weil er für einen anderen Wärme und elektrisches Licht herstellt, das ist ein Widersinn, den nur abendländische Werkkultur über die Erde verhängt. Der Kern dieses Widersinns ist, daß die Nutznießung ungeheuren Wissens und Könnens einem Klüngel von Wesen zusteht, deren Gebrauchskultur höher baut als sie selber zu steigen vermögen. Wir sehen in Indien, daß 400 ‘Millionen’ blumengleich dahinlebende Menschen von ein paar tausend Europäern rücksichtslos verknechtet und ausgenutzt werden können, wofern diese vermeintlichen Herrenmenschen nur eine Werktumsgewalt (Kanonen und Technik) besitzen, welche die anderen nicht kennen und mitmachen. Dieser vollkommen unklare, den Sinn von Freiheit und Persönlichkeit mißverstehende „Individualismus” und „Liberalismus“ (bis zum Irrsinn übersteigert in der deutschen Philosophie von Luther bis Kant, von Fichte bis Nietzsche) hat es schließlich zu wege gebracht, daß der elendeste Rohling mit bestem Gewissen und Rechte für seine Privatziele und Unternehmungen, ‚monopolisieren‘ und ‚patentieren‘ lassen kann; Findungen, welche das ganze menschliche und außermenschliche Leben der Erde zu vernichten imstande sind, indeß eine breite werktätige Masse die von ihr selber geschafienen Werke weder zu verstehen noch irgendwie zu nutzen befähigt ist. Wir haben an zwei der ältesten Findungen deutschen Geistes ein klares Beispiel dafür, daß auch die edelsten Heilmittel zu