Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

einander fest zu bannen, ohne den Wunsch, sie zu gegenständ-

lichem Vorwurf zu vereinheitlichen.*) Der einheitlich fest gestellte Gegenstand ist niemals das gelebte, sondern immer das beobachtete Gesicht Wir können daher als den äußersten Gegenpol unmittelbaren künstlerischen Schauens dieienigen Künste nenuen, welche von vornherein auf ein mechanisches Verhältniß zur Natur eingestellt sind wie das Lichtbild oder der Film.**)

Kino oder Lichtbild vermitteln uns die Welt durchaus nicht aus der Seele des Erlebenden; sondern vom Standpunkte aus, des Beobachters, welcher gleichsam maschinenmäßig einordnet. So lange wir erleben, haben wir niemals den gedanklichen Gegenstand. Schreiten wir z. B. inmitten anderer Personen eine Treppe hinauf, dann sehen wir unmittelbar nur Ränder der Stufen, Füße von Vorderleuten, Umrisse, Schatten, Licht-

flecke, Farben — und dieses alles dient uns zum Gefühls--

transparent, durch welches hindurch unser Weltbewußtsein die Gegenstände der Wirklichkeit feststellt. Die Fotografie aber gibt das Ergebniß und unterschlägt das Erlebniß.***)

=) Daher iene kennzeichnenden Flügelgreifen, Löwen oder Stiere vor

Tempelportalen, welche für unser europäisches Auge unerträglich sind, weil sie statt der natürlichen vier Beine deren sechse oder statt des einen Kopies eine ganze Reihe von Köpfen aufweisen. Der Künstler will, daß wir, von verschiedenen Standorten aus, jedes Mal nur Eines betrachten, etwa das eine Mal eine Vorderansicht, das andere Mal eine Seitenansicht.

*=) Ich möchte iene Strömungen, welche gegenwärtig mächtig geworden sind, unter Schlagworten wie: Expressionismus, Infantilismus, Dada u. dergl. gewürdigt wissen als notwendige Gegenwirkung gegen die oft zerstörerische Wirkung der Camera und der illustrirten Bücher und Zeitschriften, welche das sehende ErJeben abtöten. Der Irrtum dabei ist nur, daß man gern aus dem Äußerstem an Sachlichkeit sich flüchtet an das andere Ende: in die ganz zufällige Willkür. Daß man samit unter Erleben und Erlebniß versteht die gar nicht nachzuprüfenden ganz persönlichen Zustände des Ich, während es doch darauf ankommt das wirklich sinnlich Erfahrene abzuschneiden von den Ausdeutungen unsres Wissens um die Welt... Kunst ist weder Nachahmung einer ein für alle Mal gegebenen Wirklichkeit noch auch Sache persönlicher Willkür.

***) Ich habe diesen Gedanken schon früh für die Ästetik des Theaters fruchtbar gemacht in meinem Buche „Theaterseele“ (2te Aufl. 1906), welches seinerzeit als erstes die liter. Dramaturgie bekämpfend, eine Ästetik der Bühne auf Psychologie aufbaute. Das Buch gibt viele Beispiele für die Tatsache, daß der seit. 1600 etwa fortschreitende Wahn, man könne auf der Bühne die Wirklichkeit noch ein Mal schaffen (durch gemalte Kulissen sogenannte praktikable Requisite, weitläufige Maschinerieen usw.) nur die schöpferische Fantasie abbaut. Man lasse auf einem vier Fuß breitem Stück Holzdiele nichts sehen als ein paar Schatten von Mastbäumen, Takelwerk und Raaen und gebe zugleich dem Ohre das Geräusch ferner Meereswogen ... das Erlebniß eines Hafens wird im Zuschauer weit sicherer lebendig als wenn man den unsinnigen Versuch machen wollte einen ganzen Seehafen wirkichkeitsgetreu aufzubaun oder auf Leinwand abzubilden.