Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

Ich habe am Beispiele der sachlichen Kunst soeben dargelegt, daß der Raum samt allen Gegenständen im Raume nicht Erlebniß ist, sondern Ergebniß, und daß die bewußtseinswirkliche Welt unsres Feststellens nicht ist die unmittelbare ihr Leben ausdrückende Gestalt, sondern eben nur eine ‚Welt‘, mittelst deren wir aus dem Lebenselement heraustretend, uns über Gelebtes verständigen und zurechtefinden.

Ich will nun ganz das Selbe, von der sogenannt äußeren Erfahrung zu der nicht minder zusammengefügten und toten inneren Erfahrung übergehend, an der Zeit zeigen: daß sie selber gleich Allem, was wir in sie hineinstellen, schon ist: ein Heraustreten aus dem Element und mithin eine Mechanisirung des an sich zeitlosen, immer nur gegenwärtigen Erlebens.

\ Es ıst keineswegs so, daß man Uhren erfand, um das Erlebniß Zeit zu messen, sondern es gibt erst „das Erlebniß Zeit” von der Erfindung messenden Zeitmaßes an. Auch Zeit ist nicht unmiitelbar. Ja; sie ist schon dem Begriffe nach just das Gegenteil von Leben. ‚Zeit‘ bedeutet ursprünglich einen iestgestelten Bewegungspunkt im Gegensatz zu Weilen (althochd. wilen), welcher Begriff zurückgeht auf den der Ruhe. Leben aber ist keine mechanische Bewegung. Denn Bewegung läßt sich syntetisch zusammengesetzt denken aus abgesetzten (disiunkten) und absetzenden (intermittirenden) Differentialen und Integralen. Bewegung läßt sich auch umkehren und in umgekehrter Reihenfolge wieder aufbaun. Nicht so Lebendiges! Das ist nicht umkehrbar (retroversibel). Es ist zeitlos! Im Zustand wahrer Lebendigkeit wissen wir nicht um Zeit. Aber wir beginnen von Zeit zu wissen, sobald wir dem Leben gegenübertretend, das Element zurechtlegen und dem Sinnlosen unsern Sinn einversenken. Deswegen ist Geschichte. diese eigentliche Sachlichkeits- und Wirklichkeitswissenschaft die toteste und, da sie dennoch das Leben selber zu sein vorgibt, auch die verlogenste aller Wissenschaften.“)

Alle Bewußtseinswirklichkeit in Zeit oder Raum (mitsamt Zeit und Raum, Zählen und Messen selber) enthüllt sich somit als die in das Lebendige an hand einer normativen Vernunit-

*) Wir haben am Begriffe Zeit immer eine Negation, ähnlich wie der Begriff ‚Unendlich‘ niemals Positiv-Anschauliches und Sinnfälliges aussagt, da die Vorsilbe ‚un‘, gleich dem @ privativum nur Verneinung ist des Endlichen. — Wie Keninzeichnend ist es doch, daß Spinoza alles Endliche für unvollkommen hält (‚omnis determinatio est negatio‘); Plato aber das Unendliche!