Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

weil alles Lebendige nach Seren Gegenpol strebt und weil

somit auch dieses Buch Gericht ist eines Menschen über sich

selbst. — Denn jedes Werk, welches seinen Schöpfer ausdrückt, kehrt sich am Ende auch wider seinen Schöpfer. — Nie häufig und nie lebhait genug kann der Denker bemerken, daß die Formeln, mit denen er das Leben ausschöpft und ausschöpfen muß, dennoch nie das Leben sind. Sondern, daß zuguterletzt genau das Selbe ist: Bejahen und Verneinen, Wachen und Träumen, Freiheit und Gebundenheit, Eros und Logos, Trieb

und Wille, oder was sonst immer wir an Entgegensetzungen

und Doppelspielen zur Klärung und Erklärung unsres Erden- wesens aulüinden könnten. — Es ist das selbe Leben, welches leidet im selben Maße als es handelt, welches leistet in selben Maße als es ist, welches nicht will, im selben Maße als es will, welches nie tiefer zu lieben vermag als es auch zu hassen vermöchte, und welches grade so weit sich selber bejaht als es in anderer Richtung sich auch selber verneint. Nur als Logiker muß ich den Menschen nennen klug oder dumm, mutig oder feige, wahr oder unwahr, liebend oder hassend. Die lebendige Seele aber blüht jenseits aller Gegensätze und umschließt diese und tausend andere Widersprüche zwanglos in einander. Beim Menschen ist kein Ding unmöglich. (Und vollends bei der

Menschin!) Demut und Selbstsucht, Trotz und Hingabe,

Wechsel und Treue, Vertraun und resrchn .... alles alles ist in der Seele: Eines.

Es ist ebenso richtig, dies alles zu segnen wie dies alles zu veriluchen. Der eine sagt: „what ever is, is right“; der andere: „what ever is, is wrong“. B-eidesist wahr. „Wie kann man nur in ein Menschenangesicht sehn, ohne es zu lieben?“ so ruit Schleiermacher gelegentlich aus. „Wie kann man nur in ein Menschenangesicht sehn, ohne sich zu schämen, ja, ohne sich zu ekeln?“ so ruft Schopenhauer gelegentlich aus. Und Beides ist wahr. — — Es ist schön mit dem- alternden Plato zu sprechen: „Je älter ich werde um so mehr fallen alle Dinge der Welt von mir ab. Es gibt kaum noch irgend etwas was ich wichtignehme.“ Es ist aber nicht minder schön, mit dem alterndem Leibniz zu sprechen: „Je älter ich werde, um so mehr Dinge, an denen ich einst achtlos vorüberging, werden für mich

wichtig. Es gibt kaum noch irgend etwas was mir gleichgültig wäre.'‘*)

*) Leibniz ließ sich in seinem Alter ein „reBeleht machen, welches den Spruch trug: „Je ne meprise presque rien“

BE er. (Aa Al AS A ET