Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

wächst und kein Unkraut die ganze Erde überwuchern kann. Unter Menschen ist es nicht anders. Jedes Volk und jede Gruppe würde, wenn sie es vermöchten, alle anderen Völker und Gruppen gewältigen. Jede Schicht glaubt, zur Herrschaft berufen zu sein. Und so wird das Erdenleben, gleich dem Leben der Sterne, nur dadurch im Gleichgewicht gehalten, daß jeder Stern jeden andern aus seiner Bahn zu zerren trachtet, aber srade dadurch erst undurchbrechbar gebundene Sternenbahnen erschafft. — Es gibt freilich Augenblicke der Geschichte, wo dieses Gesetz des allgemeinen Krieges (bellum omnium contra omnes) durchbrochen zu sein scheint. Wir stehen gegenwärtig in einem solchen Augenblick. *) Brüderlichkeit, Kameradschaft, Opierwilligkeit ohne Grenzen flammte aus den Herzen. ‚Einer für alle, alle für Einen‘; ‚Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche‘ (Wilhelm II). ‚Mögen wir vergehn, Deutschland muß -bestehn!‘ — — Mit solchen Schwüren stehen wir morgens vom Lager auf; werden abends damit zu Bette geschickt... . Lassen wir uns nicht täuschen. — Was geschieht gegenwärtig?

In dem mit sozialem Zündstoff bis an die Decke vallgestopften kleinem Europa haben sich zwölf Nationen wie zwölf blitzeschwangere Gewitterwolken gegen einander geballt, nachdem die Entscheidungheischende wirtschaftliche Frage zunächst zum Scheine beiseite geschoben ward. Das ist ebenso, wie wenn eine Schafheerde in Schrecken der Feuersbrunst geschwisterlich sich an einander duckt. Es ist im besten Falle so, wie wenn Wölfe vollkommen einig fühlen, indem sie ausgehungert, verzweifelt oder bedroht, zu einem Raubund Wehrzuge sich verbünden müssen. Lasset die Spannungen und Aufschwünge verfliegen (und es ist stets Nervenfrage, wie lange Kriege und Revolutionen vorhalten!) —.. und plötzlich kehrt sich das Schaf wider das Schaf, der Woli wider den Wolf. Wie nach einer Rauferei im Porzellanladen, sieht man dann alle Habe zerstört. Jedermann wird dann sagen: ‚Es gibt keinen Feind‘ oder: Es gibt nur Feinde!‘ Je nachdem. ....

Geht ein Krieg siegreich aus, dann siegt die Macht der Faust. Geht ein Krieg unglücklich aus, dann siegt die Macht des Mauls. Endet Krieg mit Gewinn, dann kommt die Machtgewalt der Bereicherungsfanatiker. Endet Krieg mit Verlust, dann sucht und findet das Volk Sündenböcke. Geht die Sache

*) Im Herbst 1914 geschrieben.