Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen
2. Der ruhige Blick
Auch der ruhige Blick entbehrt nicht der Bewegtheit wie alles Leben. Die ruhige Einstellung des Lebendigen drückt Ja meistens ein bewegtes Gleichgewicht entgegengesetzter Kräfte aus, die im harmonischen Ausgleich ihrer Vielfalt eben die bewegte Ruhe erzeugen. Dies merken wir ganz genau, wenn wir aufgeregt und daher weder der ruhigen Einstellung der Hand und des Auges (etwa beim Zielen) noch der Ruhe der Seele fähig sind. In der Ruhe schwingt in Wirklichkeit jedes Teilchen um eine Gleichgewichtslage hin und her. So vibriert auch der Blick um sein gleichwohl bereits gefundenes Objekt. Der im Grunde sehr ruhige Blick Goethes sagt (II, 1-5), daß er gewohnt ist, sich in seine Gegenstände zu vertiefen und ruhig und bedächtige zu Werk zu gehen, in Übereinstimmung mit der Zurückhaltung seiner empfänglich offene Augen und seinem etwas kontaktabgewandten Blick. Viel gespannter dagegen und die dynamische Gleichgewichtsnatur der feinen Einstellung sehr deutlich verratend, ist der scharf-ruhige Blick der unerbittlichen Wirklichkeitserfassung bei Wedekind (VIII, 5). Und am gespanntesten vielleicht, der Gefahr, das labile Gleichgewicht zu verlieren, gar nicht mehr so entrückt, der Fernblick Nietzsches in Liebe zum einsamsten Schicksal (IX, 3). Die starke Spannung einer Feineinstellung ist uns ja schon von der Linseneinstellung her bekannt,
Und so gibt es denn auch sonst alle Übergänge der ruhigen Lebhaftigkeit, ein Ausdruck, den wir ja schon in der Einleitung angewendet haben. Unsre Modellfigur (IV, 2) ist in ihrer kleinen Welt wohlorientiert und dort munter zu Hause. Bei Siegfried (7X, 1) ist die ruhige Lebhaftigkeit der Ausdruck seines Selbstvertrauens und Kraftgefühls, das Reservoir, aus dem der bewegteste Wetterblitz seiner Taten zu gegebener Zeit herniederzucken wird.
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