Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

3. Der unstete Blick

Diese beiden Extreme des lebhaften und des ruhigen Blicks bilden aber erst die positiven Bedeutungen des bewegten, bzw. unbewegten Blicks. Jede der beiden Arten hat aber noch eine negative Bedeutung. Der Blick der Frau vom Piz Palü (XT, 2) ist sicherlich stark bewegt, und dennoch werden wir ihn nicht lebhaft, sondern eher unruhig nennen. Der unruhige Blick betont in seiner Bewegtheit nicht so sehr die Hinwendung zum Objekt, als vielmehr die Loslösung von ihm, ähnlich dem seitlich abgewandten Blick bei der Blickrichtung; hier ist es der Abwehrblick vor einem schrecklichen Geschehen. Auch sonst betont der unstete Blick, der von einem Gegenstand zum andern springt, nicht "so sehr den Objektgewinn, als vielmehr den Objektverlust. Ruhelos flackert der Blick des rückschauenden Byron (F ig. 14) und findet nirgends einen Ruhepunkt, unruhig sucht der Blick Liszts (IX, 2) in inbrünstigem Flehen, was ihm die Ruhe der Seele bringen könnte. Der Blick des flatterhaften Mädchens (Darling IV, 4) hält sich nirgends lange auf, der unzuverlässige Blick Heines (VIII, 7, 8) hält es nirgends lange aus, ist nirgendwo daheim. Auch der unstete Blick Paganinis (IX, 5) atmet in einem höheren Sinn etwas von der ruhelosen, dämonischen Natur des Künstlers. Der durch keine soziale Beziehung mit seinen Mitmenschen verbundene Al Capone (XVI, 8) kann ihnen auch nicht ruhig ins Auge blikken. Trostlos wie die Friedenstaube Noahs und hilflos sucht der Blick des alten Nansen (XII, 4) über der Sintflut des entehrten Europa. Und auch der Blick im Eece Homo (XIII, 4, 5) drückt den höchsten Grad des Objektverlusts aus in seinem: „Herr, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“

Abermals sind es andere Kleinformen, die den unruhigen vom lebhaften Blick unterscheiden; welche es im einzelnen Fall sind, ob mangelndes Zusammenspiel oder negative Ab-

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