Griechische Bildwerke : mit 140, darunter etwa 50 ganzseitigen, Abbildungen
sie zu sagen für wert halten, so überwältigend neu und bedeutend. Keine Kunst, die sich durch ihre ganze Entwicklung von jedem Schein unedler Prätention so völlig frei erhalten hätte, die so durchgehend positiv, allem Überschwung des Empfindungsausdrucks ferngeblieben wäre.
3.
Die Darstellung des Menschen in dem ganzen Umfange seiner körperlichen und ethischen Erscheinung ist der Inhalt der griechischen Kunst. Wir kennen außer der griechisch-europäischen keine Kunst, die ähnlich gerichtet wäre. Überall freilich, wo nicht religiöse Befangenheit dazwischentrat, ist auch sonst der Mensch Gegenstand künstlerischer Darstellung gewesen, aber gleichmäßig herrscht überall sonst die Tendenz, die menschliche Gestalt ihrer Unvergleichlichkeit, den Menschen seiner Individualität zu entkleiden und die menschliche Gestalt zu einer bloßen Schmuckform, einem Ornament zu entwürdigen, und wäre es auch in so monumentaler Pracht wie in dem mit farbigen Glasuren kostbar überschmolzenen Fliesenfries der Bogenschützen am Palast des Perserkönigs in Susa.
Das Bewußtsein diesesunüberbrückbaren Gegensatzes zwischen Asien und Europa, der die ganze Geschichte der Menschheit erfüllt, ist übrigens so alt wie das Selbstbewußtsein griechischer Gesittung überhaupt. Das Geschichtswerk des Herodot hebt mit dieser Erkenntnis an — es ist vom ersten zum letzten Wort um dieses Gegensatzes willen geschrieben —, und wenn der naive herodotische Bericht den Zwiespalt bis in mythische Zeiten hinaufführt, so gibt die ganze Folge von Jahrhunderten uns ein Recht, dem alten Mythus symbolische Bedeutung beizumessen.
4.
Es ist eine richtige Beobachtung, die für die ganze Kunstentwicklung Geltung hat, daß die Tracht, die Mode der Kleidung, die Auffassung des nackten Körpers mit bestimmt. Nicht nur weil das Kleid die organischen Formen des Körpers wirklich verändert, mehr noch darum, weil jeder Künst-
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ler den nackten Körper unbewußt nach der Haupterscheinung der jeweils gültigen Mode umgestaltet.
Den Griechen wird man eine Ausnahmestellung einräumen müssen. Bei ihnen trat der nackte Körper schon in ganz früher Zeit in den Vordergrund des allgemeinen Interesses, er wurde, wie es überall natürlich wäre, wirklich als das Erstgegebene betrachtet und hat umgekehrt Art und Schnitt des Gewandes bestimmt.
Nur die Griechen haben die Tracht so entwickelt, daß der Körper sich in ihr als ein gegliederter Organismus ausspricht. Bei ihnen ist er wirklich aktiv, Träger des in freiem Wurf umgelegten Gewandes, während in Babylon und Assyrien und dem ganzen von dort her bestimmten Kulturkreis der Alten Welt der Leib unter der schweren faltenlosen Teppichhülle verschwindet, und in Ägypten gerade an der entscheidenden Stelle durch das um die Hüften gelegte ornamentale Faltengefüge des Schurzes zerrissen wird, das bei aller Feinheit der Einzelbildung einen starken Zusatz hieratischer Konvention nie überwunden hat.
Die Griechen bekleiden den Körper im Großen und einheitlich, während alle Neueren die Glieder einzeln in zugeschnittene Hüllen stecken, die den Zusammenhang der Glieder in den Gelenken für das Auge, ja auch für die eigene Körperempfindung aufheben.
Auch die griechische Tracht freilich hat sich nur schrittweise zu der Freiheit des V. und IV. Jahrhunderts v. Chr. entwickelt. Immer aber haben die griechischen Künstler mit großem Geschick alle Vorteile auszunutzen verstanden, die ihnen die Tracht bot. Die Künstler der frühlinghaften Frühzeit, die immer zu Zierlichkeiten geneigt ist, haben ihren Stolz in die Wiedergabe des dünnen Geriesels der Fältchen gesetzt, mit denen der feine Linnenchiton die Formen des Körpers überfließt (2. 3), die spätere ernsthaftere Zeit der Reife gliedert das Gewand in breitere Flächen und größere Faltenzüge, unter denen die organische Struktur des Leibes hervortritt, Päonios von Mende wagt den weit ausge-