Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/1

20 Ein Blick auf das Leben der Geſamtheit.

„Dex Maulwurf iſt nicht blind, gegeben hat ihm nur Ein kleines Auge, wie er's brauchet, die Natur;

Mit welchem er wird ſehn, ſo weit er es bedarf

Im unterirdiſchen Palaſt, den er entwarf;

Und Staub ins Auge wird ihm deſto minder fallen, Wenn wühlend er emporwirft die gewölbten Hallen. Den Regenwurm, den er mit andern Sinnen ſut, Braucht er niht zu erſpähn, niht {nell iſt deſſen Flucht. Und wird in warmer Nacht ex aus dem Boden ſteigen, Auch ſeinem Augenſtern wird ſi< der Himmel zeigen, Und ohne daß er's weiß, nimmt er mit ſi<h hernieder Auch einen Strahl und wühlt im Dunkeln wieder.“

Das Auge der Säugetiere müſſen wir übrigens au< no von einem anderen Standpunkte betraten: als äußeres, ſihtbares Bild des Geiſtes. Bei den unteren Klaſſen hat es no< niht die Beredſamkeit erlangt, daß es als Spiegel der Seele erſcheinen könnte. Wir finden es zwar bei der Schlange tü>iſh, beim Krokodil hämiſch und bei einigen Vögeln mild, bei anderen aber ſtreng, ernſt, mutig: allein mit wenigen Ausnahmen legen wir ſelbſt das hinein, was wir zu ſehen glauben. Erſt aus dem lebendigen Falkenoder Adlerauge \priht uns das Jnnere an; bei dem Auge der Säugetiere iſt dies aber faſt immer der Fall. Hier können wir wirkli<h von einem Geſichtsausdru>e reden: und an einem ſolchen nimmt ja eben das Auge den größten Anteil. Deshalb hat ſi das Volk mit richtiger Erkenntnis längſt ſeine Bilder gewählt und ſpricht mit Recht von dem blöden Auge des Rindes, dem ſhönen Auge der Giraffe, dem milden der Gazelle, dem treuherzigen des Hundes, dem dummen des Schafes, dem falſchen des Wolfes, dem glühenden des Luchſes, dem tü>iſchen des Affen, dem ſtolzen des Löwen; denn bei allen dieſen Tieren iſt das Auge wixrkli< der trugloſe Spiegel des Geiſtes. Die Bewegung der Tierſeele ſpricht aus dem Auge, dieſes erſebt die fehlende Sprahe. Schmerz und Freude, Betrübnis und Heiterkeit, Angſt und Leichtſinn, Kummer und Fröhlichkeit, Haß und Liebe, Abſcheu und Wohlwollen finden in dem Auge ihren ſtummberedten Verkündiger: der Geiſt offenbart ſi< hier äußerlih. Und ſo mag uns das Auge als Bild und Dolmetſch zur allgemeinen Betrachtung des Tiergeiſtes führen.

Wir ſind weit entfernt, das Weſen des Tiergeiſtes erkannt zu haben, aber wir ftudieren am Tiere in der Abſicht, uns ſelbſt kennen zu lernen. Wir ſchreiten in unſerer Erkenntnis vor von Jahr zu Jahre, von Tag zu Tage, und ſchon ſeit langem laſſen wir vom Tiergeiſte Scheit lins goldene Worte gelten: „Alles Tier iſt im Menſchen, aber niht aller Menſch iſt im Tiere!“

Das Säugetier beſizt Gedähtnis, Verſtand und Gemüt und hat daher oft einen ſehr entſchiedenen, beſtimmten Charakter. Es zeigt UnterſcheidungSsvermögen, Zeitz, Ortz, Farben- und Tonſinn, Erkenntnis, Wahrnehmungsgabe, Urteil, Schlußfähigkeit; es bewahrt ſich gemachte Erfahrungen auf und benust ſie; es erkennt Gefahren und denkt über die Mittel nat, um ſie zu vermeiden; es beweiſt Neigung und Abneigung, Liebe gegen Gatten und Kind, Freunde und Wohlthäter, Haß gegen Feinde und Widerſacher, Dankbarkeit, Treue, Achtung und Mißachtung, Freude und Schmerz, Zorn und Sanftmut, Liſt und Klugheit, Ehrlichkeit und Verſchlagenheit. Das kluge Tier rechnet, bedenkt, erwägt, ehe es handelt, das gefühlvolle ſet mit Bewußtſein Freiheit und Leben ein, um ſeinem inneren Drange zu genügen. Das Tier hat von Geſelligkeit ſehr hohe Begriffe und opſert ſi< zum Wohle der Geſamtheit; es pflegt Kranke, unterſtüst Schwächere und teilt mit Hungrigen ſeine Nahrung. Es überwindet Begierden und Leidenſchaften und lernt iG