Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2, стр. 543

Haus- und Wanderratte: Fortpflanzung. Gefangenleben. 503

Speiſen ihr Harn und ſelbſt ihre Ausdünſtung ſtets einen widrigen, durhdringenden Geruch bekommt. Dex eigentümliche, ſo höchſt unangenehme Geruch, welchen die gewöhnlichen Mäuſe verbreiten und allen Gegenſtänden, die damit in Berührung fommen, dauernd mitteilen, fehlt den weißen Wanderratten gänzlih, wenn man ſie in der angegebenen Weiſe hält. Die Manderratten verraten viel Liſt. Wenn ihre hölzernen Käfige von außen mit Blech beſchlagen ſind, verſuchen ſie das Holz durhzunagen, und wenn ſie eine Zeitlang genagt haben, greifen ſie mit den Pfoten durch das Gitter, um die Stärke des Holzes zu unterſuchen und zu ſehen, ob ſie bald durch ſind. Beim Reinmachen der Käfige wühlen ſie mit Rüſſel und Pfoten den Unrat an die Öffnung, um auf dieſe Weiſe ſih ſeiner zu entledigen. Sie lieben die Geſellſchaft ihresgleihen. Oft machen ſie fi ein gemeinſchaftliches Neſt und erwärmen ſih gegenſeitig, indem ſie darin dicht zuſammenkriechen; ſtirbt aber eine von ihnen, ſo macen ſih die übrigen gleih über ſie her, beißen ihr erſt den Hirnſchädel auf, freſſen den Snhalt und verzehren dann nah und nach die ganze Leiche mit Zurülaſſung der Knochen und des Felles. Die Männchen muß man, wenn die Weibchen trächtig ſind, ſogleich abſperren; denn ſie laſſen ihnen keine Ruhe und freſſen au die Jungen am erſten. Die Mutter hat übrigens viel Liebe zu ihren Kindern; ſie bewacht ſie ſorgfältig, und dieſe erwidern ihr die erwieſene Zärtlichkeit auf alle nur mögliche Weiſe.

„Außerordentlich groß iſt die Lebenszähigkeit dieſer Tiere. Einſt wollte ih eine ungefähr 1 Jahr alte weiße Wanderratte durch Erſäufen töten, um ſie von einem mir unheilbar ſcheinenden Leiden, einer offenen, eiternden Wunde, zu befreien. Nachdem ich ſie bereits ein halbes Dugend Mal in eisfaltes Waſſer mehrere Minuten lang getaucht hatte, lebte ſie no< und pußte ſi mit ihren Pfötchen, um das Waſſer aus den Augen zu entfernen. Endli ſprang ſie, indem ih den Topf öffnete, in den Schnee und ſuchte zu entfliehen. Nun ſezte ih ſie in einen Käfig auf eine Unterlage von Stroh und Heu und brachte ſie in die warme Stube. Sie erholte ſi< bald ſo weit, daß man ſah, das falte Bad habe ihr nichts geſchadet. Jhre Freßluſt hatte gegen früher eher zu- als abgenommen. Nah einigen Tagen ſete ih ſie wieder aus der warmen Stube in ein ungeheiztes Zimmer, gab ihr aber Heu, und ſie bereitete ſi<h daraus auch alsbald ein bequemes Lager. Zu meinem Erſtaunen bemerkte ih nun, daß der offene Schade von Tag zu Tag kleiner wurde; die Entzündung {wand immer mehr, und nah ungeſähr 14 Tagen war die Heilung vollſtändig erfolgt. Hier hatte alſo offenbar das eisfalte Bad die Entzündung gehoben und dadurch die Geneſung bewerkſtelligt. Kaum glaube ih, daß ein anderer verwandter Nager ein ſolches wiederhol: tes Bad ohne tödlichen Ausgang überſtanden haben würde, und nurx aus der Lebensweiſe und Lebenszähigkeit der Wanderratten, deren zweites Element das Waſſer iſt, läßt ſich ein ſo glü>liher Erfolg erklären. Die unteren Nagezähne wachſen zahmen Ratten oft bis zu einer unglaublichen Länge und ſind dann ſhraubenförmig gewunden. Fh habe auch geſehen, daß ſie dur< das Bacenfell gewachſen waren und die Tiere derart am Freſſen verhinderten, daß ſie endlih verhungern mußten.“

Solche im engen Gewahrſam gehaltene, gut gepflegte Ratten werden ſo zahm, daß ſie ſi< niht bloß berühren oder von Kindern als Spielzeug verwenden, ſondern auh zum Aus- und Eingehen in Haus, Hof und Garten gewöhnen laſſen, ihren Pflegern wie Hunde nachfolgen, auf den Ruf herbeikommen, furz zu Haus- oder Stubentieren im beſten Sinne werden.

Jm Freileben kommt unter den Ratten zuweilen eine eigentümliche Krankheit vor. Mehrere von ihnen verwachſen untereinander mit den Schwänzen und bilden dann den ſogenannten Nattenkönig, den man ſi in früheren Zeiten freilich ganz anders vorſtellte als gegenwärtig, wo man ihn in dieſem oder jenem Muſeum ſehen kann. Früher glaubte man, daß der Nattenkönig, geſhmückt mit goldener Krone, auf einer Gruppe innig verwachſener