Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3
Renn: Geſchichtliches. Verbreitung. Wanderungen. 451
findet ſih in allen Ländern nördlih des 60. Grades, ſteigt in manchen Gegenden bis zum 52. Grade nördlihher Breite herab und kommt nah Norden hin noh jenſeits des 80. Grades regelmäßig vor. Wild trifft man es auf den Alpengebirgen Skandinaviens und Lapplands in Finnland, im ganzen nördlihen Sibirien, in Grönland und auf den nördlichſten Gebirgen des feſtländiſhen Amerika. Auch auf Spißbergen- lebt es; auf Jsland iſt es, na<hdem es vor mehr als 100 Jahren dort eingeführt wurde, vollſtändig verwildert und hat ſi bereits in namhafter Anzahl über alle Gebirge der Jnſel verbreitet. Fn Norwegen ſand i es auf dem Dovrefjeld noc in ziemlicher Anzahl vor; nach der Verſicherung meines alten Erif ſollten mindeſtens 4000 Stü allein auf dieſem Gebirgsſto>e leben. Aber es kommt au< auf den Hochgebirgen des Bergener Stiftes vor und reiht dort ſicherlih bis zum 60. Grade nördlicher Breite herab. Jm nördlichen Aſien verbreitet es ſih zwar erheblih weiter nah Süden hin, tritt hier jedo< nirgends zahlreih auf und iſt in ſtetiger Abnahme begriffen. Schon gegenwärtig bewohnt es nur noch in kleinen Trupps das öſtliche Sajan, das Quellgebiet des Frkut und Kitoi, die Baikalgegenden, das Quellgebirge der Dſchida und das Apfelgebirge, wird aber auh hier von Jahr zu Jahr ſeltener. Dagegen fehlt es wohl faum einem Gebirge des nördlichen Aſien jenſeits des 50. Grades der nördlichen Breite und findet ſi< innerhalb dieſes Gebietes, ebenſowohl wild wie gezähmt, hier und da in ſehr bedeutender Anzahl.
Das Renntier iſt ein e<tes Alpenkind wie die Gemſe und findet ſi< nur auf den baumloſen, mit Moos und wenigen Alpenpflanzen beſtandenen, breiten Rü>ken der nordi[hen Gebirge, welche die Eingeborenen ſo bezeihnend „Fjelds“ nennen. Fn Norwegen bildet der Gürtel zwiſchen 1000 und 2000 m Höhe ſeinen gewöhnlihen Aufenthalt. Niemals ſteigt es hier bis in den Waldgürtel herab, wie es überhaupt ängſtlih die Waldungen meidet. Die kahlen Bergebenen und Halden, zwiſchen deren Geſtein einzelne Pflanzen wachſen, oder jene weiten Ebenen, welche dünn mit Renntierflechten überſponnen ſind, müſſen als Standorte dieſes Wildes angeſehen werden, und nur dann, wenn es von einem Höhenzuge nah dem anderen ſtreift, trollt es über eine der ſumpfigen, moraſtähnlichen, niederen Flächen hinweg; aber au< bei ſolchen Ortsveränderungen vermeidet es no< ängſtli<h den Wald. Pallas gibt an, daß es im nördlichen Sibirien zuweilen in Waldungen vorkomme, und von Wrangel beſtätigt dies. Von beiden Schriftſtellern erfahren wir, daß es in Sibirien weite und regelmäßige Wanderungen ausführt. Um den Daſſelfliegen zu entgehen, ſteigt es, laut Pallas, im Sommer aus den offenen Gegenden auf die waldigen Berge und kehrt von hier aus erſt gegen den Winter hin in die Ebenen zurü>. Ebenſowohl bei der Reiſe zu Berge wie bei der Wanderung zu Thale vereinigt es ſih zu zahlreichen Herden, welche, nah ihren Geweihen einem wandelnden Walde vergleichbar, dahinziehen, auf weithin zu verfolgende Pfade austreten und breite Ströme mehr oder weniger an denſelben Stellen kreuzen. Die Kühe mit den Kälbern eröffnen, die Hirſche beſchließen dieſe Züge. „Gegen Ende Mai“, ergänzt von Wrangel, „verläßt das wilde Nenn in großen Herden die Wälder, wo es den Winter über einigen Schuß gegen die grimmige Kälte ſucht, und zieht nah den nördlichen Flächen, teils, weil es dort beſſere Nahrung auf der Moosfläche findet, teils aber auh, um den Fliegen und Mücken zu entgehen, welche mit Eintritt des Frühlinges in ungeheuern Schwärmen die Luft verfinſtern. Der Frühlingszug iſt für die dortigen Völkerſchaften niht vorteilhaft; denn in dieſer Jahreszeit ſind die Tiere mager und durch die Stiche der Kerbtiere ganz mit Beulen und Wunden bede>t; im Auguſt und September aber, wenn die Renntiere wieder aus der Ebene in die Wälder zurüctkehren, ſind ſie geſund und wohlgenährt und geben eine ſhmacthafte, kräftige Speiſe. Jn guten Jahren beſteht der Renntierzug aus mehreren tauſenden, welche, obgleih ſie in Herden von 2090—800 Stü> gehen, ſih do< immer ziemlih nahe bleiben, ſo daß das Ganze
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