Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3
454 Elfte Ordnung: Paarzeher; fünfte Familie: Hirſche.
in die Höhe und ſtößt hierbei raſh und hintereinander dumpfe, grunzende Laute aus, bläht ſeine Lippen auf, ſhlägt ſie wieder zuſammen, beugt den hintern Teil ſeines Leibes nieder und gebärdet ſi<h überhaupt höchſt ſonderbar. Der Beſchlag ſelbſt geht ſehr raſh vor ſi; dabei faucht der Hirſh nieſend mit der Naſe. Mitte April iſt die Satzeit; das alte Tier geht alſo etwa 30 Wochen trächtig. Niemals ſollen wilde Renntiere mehr als ein Kalb ſeßen. Dieſes iſt ein kleines, ſ<hmu>es Geſchöpf, welches von ſeiner Mutter zärtlich geliebt und lange geſäugt wird. Fn Norwegen nennt man das junge Renntier entweder Bo >falb oder Semlekalb, je nahdem es männlich oder weiblich iſt; die erwachſenen werden ebenfalls als Bo> und Semle unterſchieden. Schon gegen das Frühjahr hin trennt ſi< das hochbeſchlagene Tier mit einem Bote von ſeinem Rudel und {weiſt nun mit dieſem bis zur Saßzeit und au<h nah ihr no< umher. Solche Familien trifft man häufig; die Schmaltiere und die jungen Böke bilden ihrerſeits ſtärkere Rudel, bei denen ein geltes Alttier die Leitung übernimmt. Erſt wenn die Kälber groß geworden ſind, vereinigen ſich die Familien wieder zu Rudeln. Die Renntiere ſind ſo beſorgt um ihre Sicherheit, daß das Leittier, auh wenn alle übrigen Mitglieder des Rudels wiederkäuend ruhen, immer ſtehend das Amt des Wächters ausübt; will es ſi ſelbſt niederlaſſen, ſo ſteht augenbli>äli< ein anderes Alttier auf und übernimmt die Wache. Niemals wird ein Rudel Renntiere an Halden weiden, wo es gegen den Wind beſ<lihen werden kann; es ſut ſi ſtets Stellen aus, auf denen es die Ankunſt eines Feindes ſhon aus weiter Entfernung wahrnehmen fann, und dann trollt es eilig davon, oft meilenweit. Es kehrt aber na< guten Pläßben zurü>, wenn auh niht in den nächſten Tagen.
Die Jagd des wilden Renns erfordert einen leidenſhaftlihen Jäger oder einen eten Naturforſcher, dem es auf Beſhwerden und Entbehrungen niht ankommt. Fn Norwegen iſt die Birſche für den Geübten die beſte Fagdweiſe. Nicht ſelten ift ein beſhlichenes Nudel nah dem erſten Schuſſe ſo verblüfft, daß es noh eine geraume Zeit verwundert ſtehen bleibt: erſt nachdem es den Schüßen entde>t hat, wird es flüchtig. Das wiſſen die norwegiſchen Jäger, und deshalb gehen ſie gern ſelbander oder zu dreien und vieren auf die Jagd, ſhleihen zugleih nah einem Rudel hin, zielen verabredetermaßen auf beſtimmte Tiere und laſſen einen zuerſt feuern; dann ſchießen au< ſie. Für viele ſibiriſche Völkerſchaften hat die Jagd des Renns die höchſte Bedeutung. „Die Jukahiren und die übrigen Bewohner der Gegend längs dem Aniuj-Fluſſe in Sibirien“, ſagt von Wrangel, „hängen ganz von dem Renntiere ab, welches hier, wie in Lappland, faſt ausſhließlih Nahrung, Kleidung, Fuhrwerk, Wohnung liefert. Die Renntierjagd entſcheidet, ob Hungersnot oder Wohlleben herrſchen wird, und die Zeit der Renntierzüge iſt hier der wichtigſte Abſchnitt des Jahres. Wenn die Tiere auf ihren regelmäßigen Wanderungen zu den Flüſſen kommen und ſi< anſ<hi>en, über dieſelben weg zu ſhwimmen, ſtürzen die Jäger in ihren kleinen Kähnen pfeilſchnell hinter Büſchen, Geſteinen 2c., wo ſie ſih bis dahin verborgen gehalten, hervor, umringen den Zug und ſuchen ihn aufzuhalten, während zwei oder drei der gewandteſten unter ihnen, mit einem kurzen Spieße bewaffnet, in den ſchwimmenden Haufen hineinfahren und in unglaublich kurzer Zeit eine große Menge töten oder doh ſo {wer verwunden, daß ſie höchſtens das Ufer erreichen, wo ſie den dort wartenden Weibern, Mädchen und Kindern in die Hände fallen. Die Jagd iſt übrigens mit großer Gefahr verbunden. Jn dem ungeheuren Gewühle der diht nebeneinander {hwimmenden Tiere iſt der kleine, leichte Kahn ohnehin jeden Augenbli> dem Umwerfen nahe; außerdem aber wehren ſich die verfolgten Tiere auf alle möglihe Art: die Männchen mit ihren Geweihen und Zähnen, die Weibchen aber mit den Vorderläufen , mit denen ſie auf den Rand des Kahnes zu ſpringen pflegen. Kentert dabei der Kahn, ſo iſt gewöhnlih der Jäger verloren, weil es ihm faſt unmöglih wird, ſi< aus dem dihten Haufen herauszuarbeiten.“