Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3
456 Elfte Drdnung: Paarzeher; fünſte Familie: Hirſche.
Norwegens auf einem Punkte zuſammengezogen hätten, ſo häufig waren ſie geworden. Weil man nun die Wachſamkeit verdoppelte, blieben dieſe nicht bei der Nenntierjagd allein, ſondern kamen au< in Unmaſſen in das Thal herab, raubten gierig in der Nähe der Gehöſte Rinder und Schafe, bedrohten die Menſchen und wurden \<ließli< ſo läſtig, daß man jene Herde teils abſ<la<ten, teils niederſhießen, teils verwildern laſſen, mit einem Worte, die Zucht aufgeben mußte. Auch Vielfraß, Luchs und Bär ſtellen den Renntieren nah. Nächſt dieſen großen Räubern ſind es kleine, ſcheinbar erbärmliche Kerbtiere, welche mit zu den ſ<limmſten Feinden der Renntiere gezählt werden müſſen.
Jung eingefangene Renntiere werden ſehr bald zahm; man würde ſich aber einen falſchen Begriff machen, wenn man die Renntiere, was die Zähmung anlangt, den in den Hausſtand übergegangenen Tieren gleichſtellen wollte. Nicht einmal die Nahkommen derjenigen, welche ſ{<on ſeit undentlichen Zeiten in der Gefangenſchaft leben, ſind ſo zahm wie unſere Haustiere, ſondern befinden fi<h immer noh in einem Zuſtande von Halbwildheit. Nur Lappen und deren Hunde ſind im ſtande, ſolche Herden zu leiten und zu beherrſchen.
Übrigens geben ſi< niht bloß die Lappen mit der Renntierzucht ab, ſondern auch die Finnen und viele ſibiriſche Völkerſchaften. Das zahme Renntier iſt die Stüße und der Stolz, die Luſt und der Neichtum, die Qual und die Laſt des Lappen; nach ſeinen Begriffen ſteht derjenige, welcher ſeine Renntiere nah Hunderten zählt, auf dem Gipfel menſchlicher Glü>ſeligkeit. Einzelne Lappen beſißen 2—3000 Stü>, die meiſten aber höchſtens deren 500; niemals jedo< erfährt ein Normann die eigentliche Anzahl der Herde eines dieſer Biedermänner: denn alle Lappen glauben, daß Wolf und Unwetter ſofort einige Renntiere vernihten würden, wenn die Beſißer unnötigerweiſe über ſie und ihre Anzahl ſprechen ſollten. Mit Stolz ſchaut der Fjeldlappe, der eigentliche Renntierzühter, auf alle anderen ſeines Volkes herab, welche das Nomadenleben aufgegeben und ſich entweder als Fiſcher an Flüſſen, Seen und Meeresarmen niedergelaſſen, oder gar als Diener an Skandinavier verdingt haben; ex allein dünkt ſih ein echter, freier Mann zu ſein; er kennt nihts Höheres als ſein „Meer“, wie er eine größere Renntierherde zu nennen pflegt. Sein Leben erſcheint ihm föſtlih; er meint, daß ihm das beſte Los auf Erden zugefallen ſei.
Und was für ein Leben führen dieſe Leute! Nicht ſie beſtimmen es, ſondern ihre Herde: die Renntiere gehen, wohin ſie wollen, und die Lappen müſſen ihnen folgen. Der Fjeldlappe führt ein wahres Hundeleben. Monatelang verbringt er den größten Teil des Tages im Freien, im Sommer gequält und gepeinigt von den Mü>en, im Winter von der Kälte, gegen welche er ſi<h niht wehren kann. Oft kann er ſih niht einmal Feuer ſchüren, weil er in den Höhen, welche ſeine Herde gerade abweidet, kein Holz findet; oft muß er hungern, weil er ſi<h weiter entfernt hat, als er wollte. Dürftig geſhüßt durch die Kleidung, iſt er allen Unbilden der Witterung preisgegeben; ſeine Lebensweiſe ma<ht ihn zu einem halben Tiere. Er wäſcht ſih niht; ex nährt ſih von geradezu abſcheulihen Stoffen, welche ihm der Hunger eintreibt; er hat oft keinen anderen Gefährten als ſeinen treuen Hund und teilt mit dieſem ehrlih und rédlich die geringe Nahrung, welche ihm wird. Und alles dies erträgt er mit Luſt und Liebe ſeiner Herde wegen. Das Leben der zahmen Renntiere unterſcheidet ſich faſt in jeder Hinſicht von dem des wilden Renns. Fene ſind, wie ih oben angab, kleiner und häßlicher geſtaltet, werfen ſpäter ab, pflanzen ſih auh zu einer anderen Zeit im Jahre fort als die wilden und wandern beſtändig. Fn den Monaten Juli und Auguſt leben ſie auf den Gebirgen und am Meeresſtrande, vom September an findet die NRü>wanderung ſtatt, und um dieſe Zeit läßt der Lappe, wenn ex bei ſeinen Herbſtſtellen, kleinen Blockhäuſern, in denen er die notdürftigſten Lebensbedürfniſſe verwahrt, angelangt iſt, ſeine Nenntiere ihre Freiheit genießen, falls „Friede im Lande“ iſt, d. h. falls keine Wölfe in der Nähe umherſtreifen. Jun dieſe Zeit fällt die Brunſt, und dabei geſchicht es, daß die