Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

372 Neueſte Ge)chichte. 2. Zeitraum.

politiſche Laufbahn begonnen hatte, ließ fi der Marſchall Ney zu dem Mißgriff bewegen, das über ihn niedergeſebßte Kriegsgericht zu verwerfen und die Pairskammer, deren Mitglied er war, für ſi anzurufen. Seine Vertheidiger glaubten, auf dieſe Art Zeit zu gewinnen, und hofften, daß die Stimmung am Hofe und in den einflußreichen Kreiſen der Hauptſtadt unterdeſſen eine für ihren Klienten günſtige Wendung nehmen würde. Sie irrten ſich. Die Pairs traten in großer Eile zu einem Staat8ge= rihtshof zuſammen, und die Meinung in der vornehmen Geſellſchaft, der royaliſtiſhen Preſſe und in den Umgebungen des Königs und der Prinzen war durch die Weigerung des Marſchalls Moncey und ſein Schreiben an Ludwig XVTIT. noch gereizter als früher geworden.

Am 21. November ward Ney's Proceß eröffnet. Die einzige Erz klärung ſeines Verhaltens, und deſſen moraliſche, wenn auh niht legale, Entſchuldigung lag in dem ſchon vor ſeinem eigenen Abfalle maſſenweiſe begonnenen Uebergange der Truppen zu Napoleon, in der langen Ent= fernung der Bourbonen aus Frankreich und ihrer unerwarteten Rükehr, die ihre Wiedereinſebung als ein vorübergehendes Spiel des Zufalles erſcheinen laſſen konnte, und in dem unwiderſtehlichen Einfluß deſſen, den Ney und mit ihm das franzöſiſche Volk fo lange als den oberſten ruhm= gekrönten Führer anzuſehen gewohnt geweſen waren. Hierin allein konnte, wie überall, wo große und tiefgehende Revolutionen das Rechtsbewußt= ſein ſchwankend gemacht, eine Minderung der Schuld für den liegen, der bei dem raſchen und gewaltſamen Wechſel der Dinge ſeinen zulebt gez faßten Verpflichtungen untreu geworden , und von einer Fahne zu einer anderen übergegangen war. Bei der antinapoleon'’ſhen Bewegung jener Zeit und den traurigen Folgen der hundert Tage konnten Ney's Ver=. theidiger ſolche Milderungsgründe niht entwi>eln , und was ſie davon berührten, verhallte ungehört, Sie beriefen ſih dagegen vornehmlich auf die Kapitulation von Paris, in welcher dem Napoleon'ſhen Heere freier Abzug und den Anhängern des Kaiſers Sicherheit der Perſonen und des Eigenthums verſprochen worden war. Dies war aber eine reine Militairtonvention, und band nur die Feldherren der verbündeten Heere, aber nicht die königlihe Regierung. Wellington und Blücher hätten allerdings nicht Ney oder andere Napoleon’ ſche Generale richten laſſen fönnen, aber Ludwig XVIIT. war hierin vollfommen freie Hand geblieben.

Am Abend des 6. December ſpra< die Pairskammer mit großer Stimmenmehrheit die Todesſtrafe gegen den Marſchall Ney aus. Von Seiten eines Kriegsgerihts würde ihn wahrſcheinlich nur das Schickſal Moreau's getroffen und er zu Verbannung oder Gefängniß verurtheilt